Das lange und wechselvolle Leben eines Rennwagens
In der DDR ging man mit Ressourcen – insbesondere Rohstoffen – meist sorgsam um. So landeten Autos seltener im Schrott als anderswo. Die Wagen wurden immer wieder repariert, teilweise neu aufgebaut, sogar vererbt und verloren kaum an Wert. So mancher Trabi wurde mit einem neuem „Geweih“ (Teil der Bodenplattform vorn), neuen Schwellern das dritte Mal neu lackiert und absolvierte mit der zweiten überholten Kurbelwelle und Zylindern im dritten Schliff Hunderttausende Kilometer. Oft wurden Personenkraftwagen Jahrzehnte genutzt. Mein Trabi ist Baujahr 1967 und somit nur wenige Jahre jünger als ich. Er wurde Jahrzehnte im Alltag und auch bei Rennveranstaltungen genutzt. Wenn man will, kann man diese Art Sparsamkeit als nachhaltig einstufen. Andere diffamieren sie als Mangelwirtschaft. Aus einem Angeber-SUV von heute hätte man, was die Rohstoffe anbetrifft, (“gefühlt”) sechs bis acht Trabis machen können, aber das ist eine andere Sache.
Beim Strassenrennsport in der DDR gab es ebenfalls – verglichen mit dem Westen – spezielle Bedingungen. Um Rennfahrer werden zu können, mussten die Pioniere sich ein Fahrzeug oft selbst bauen. Das erklärt auch, warum man im Cockpit manchmal eher ältere Herren sah. Oft waren diese Handwerker z.B. Besitzer einer mechanischen Werkstatt. Dann gab es Zusammenschlüsse, wie die Sozialistische Entwicklungsgemeinschaft SEG, in der sich Rennfahrer vereinten, um Fahrzeuge aufzubauen, wobei jeder ein spezielles Aufgabengebiet hatte. Im Falle der SEG war der Initiator Siegfried Seifert, der sich mit Dr. Ing. Conrad Hofmann von der TU Dresden verbündete, um ein innovatives Rennfahrzeug für die neue Formel Junior zu entwickeln. Unter Mithilfe von Seiferts Schwiegersohn Kurt Ahrens in Braunschweig konnte ein aktueller Lotus 18 fotografiert und analysiert werden und bot so wichtige Orientierungspunkte. Als Antrieb kamen vor allem Aggregate aus der DDR in Frage. Heinz Melkus und auch Willi Lehmann hatten Motoren vom Wartburg 311 schon auf 85 PS getunt, was damals zunächst in der Formel Junior auch international zur Wettbewerbsfähigkeit genügt hatte. Und so kam auch bald DDR-Meister Lehmann ins Team, dessen Scampolo damit bald ausgedient hatte.
Im Jahr 1961 gründete sich diese Gemeinschaft mit den weiteren Mitgliedern Christian Pfeiffer, Erich Käppler und Siegmar Bunk zunächst als SAG (Sozialistische Arbeitsgemeinschaft). Um Fehlinterpretationen in Anbetracht sowjetischer Firmennamen, wie SAG Awtowelo zu verhindern, wurde sie kurz darauf in SEG umbenannt. Siggi Seifert baute für die Saison 1962 zwei Rahmen des ersten Typs SEG I, die mit Aluminium-Karossen versehen wurden. Die beiden SEG I wurden 1962 von Lehmann und Seifert gefahren und danach an andere Fahrer verkauft. Beide sind in den sechziger Jahren bei Unfällen zerstört worden. Im Winter 1962/63 entstanden 6 Rahmen, die nach dem Vorbild des Lotus 20/22 modifiziert wurden. Ein Rahmen wurde an der TH Dresden unter Prof. Weber zur Entwicklung einer Kunststoff-Karosse benutzt. Dr. Hofmann entwickelte mit Teilen von Wartburg 311 und Barkas B1000 ein neues Fünfgang-Getriebe mit einem vorgeschalteten “Overdrive”-Zwischengetriebe, das die Getriebedrehzahl erhöhte und die Drehrichtung umkehrte. Mit diesem Zwischengetriebe konnten auch die Übersetzungen an die Strecken-Charaktere angepasst werden. Willi Lehmann tunte die Motoren unter Verwendung von Dellorto-Vergasern. Zum Kollektiv gehörten nun auch Siegmar Bär und Siegfried Leutert, der Leiter der ADMV-Werkstatt Leipzig. In Leipzig wurden Felgen und Hinterachskörper aus Elektron gefertigt. Die SEG fuhren 1963 mit Dreivergaseranlagen erfolgreich in der Formel Junior und wurden im Winter 1963/64 für die neue Formel 3 umgerüstet. Das bedeutete, dass nur noch mit einem Vergaser gefahren werden durfte. Willi Lehmann wurde mit einem dieser SEG II DDR-Meister in den Jahren 1965 und 1966. Im Jahr 1967 beendete er seine Laufbahn.
Lehmanns SEG II tauchte im Jahr 1974 wieder in der DDR-Bestenliste auf. Wolfgang Krug hatte das Fahrgestell für die neue Klasse C9 mit einem Lada-Motor ausgerüstet und wurde damit promt DDR-Meister. Bald aber war der SEG II zunächst gegen HTS und SEG III und dann gegen die überlegenen MT 77 nicht mehr konkurrenzfähig. Doch der erfolgreiche Renner wurde nicht verschrottet. Er bekam ein weiteres Leben. Nach Formel Junior, Formel 3 und C9/B8 tauchte er nun mit einem getunten Trabant-Triebwerk in der neuen Nachwuchsformel Formel-Junior 600 bzw. Formel E(Easter)600 wieder auf. Gerhard Vater hat es auch nach dem Ende der Formel E600 im Jahr 1984 m.E. noch bis mindestens 2010 bei Veranstaltungen des historischen Rennsports gefahren. Das Fahrzeug von Gerhard Vater war in vielen Details so verändert, dass ich es nie als SEG II erkennen konnte. Dies gelang Ralf Schaum aus Teicha. Er baut das Fahrzeug nun wieder so auf, wie es von Willi Lehmann zum ersten Mal an den Start gebracht wurde. Dazu mussten viele Teile nach Fotos rekonstruiert werden, da es keine Zeichnungen mehr gab. Reinhardt Weiser, der mit seinem SEG III 1989 in die LK I aufstieg, fertigte Dreieckslenker und Wolfgang Wiele gab als “letzter originaler SEG II-Zeuge” viele Hinweise. Er fuhr selbst einen SEG und war einst Mechaniker von Willi Lehmann gewesen. Unter den kundigen Händen von Ralf Schaum kehrt nun bald ein legendäres Rennfahrzeug auf unsere Rennstrecken zurück. Rascha ist als jahrzehntelanger Motorradrennfahrer fit genug, es uns bald in neuem Glanz zu präsentieren. Ich freu mich schon darauf.
Im Jahr 2007 hatte ich Gelegenheit, einige Legenden der DDR-Rennsportgeschichte zu filmen. Am Vorstart beim historischen Marktplatz der sachsen-anhaltinischen Stadt Zörbig erläuterten Gerhard Vater (schwarze Kombi, Bärtchen, St.-Nr. 342) und Siegfried Schulz (schwarze Kombi, blaue Kappe, St.-Nr. 6) ihre Fahrzeuge und präsentierten sie darauf auf dem kleinen Stadtkurs. In “weiteren Rollen” der Scampolo-Wartburg ex Willi Lehmann (St.-Nr, 3), ein Ketten-Wartburg gebaut von der Heinz Melkus KG in Dresden, ein Hanomag-Einzylinder-“Rennkörbchen” sowie meine Freunde Andreas Haubenreißer im Fiat 125p-“Vierventiler” und Bernhard Hofmann in einer seiner schnellen “Rennpappen”.
Video: “Curbici Veterano” in Zörbig 2007
Quelle: von Sahr, Leo, Die Entstehungsgeschichte des Rennwagen-Typs “SEG” in der DDR, 2021, Eigenverlag, PDF erhältlich bei “Formel-1-des Ostens”
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